Eine neue Branche entsteht
Der Aufstieg der Klimadienstleister
Von Daniel Baumann
Es war ein Sonntagnachmittag im Jahre 1859. Edwin L. Drake, genannt der Colonel, hatte sich längst zum Gespött der Gesellschaft gemacht. Mit seinem scheinbar irrwitzigen Versuch, an den Ufern eines Baches bei Titusville, Pennsylvania, nach Öl zu bohren, löste er nur allgemeines Unverständnis aus.
Doch nun sackte der Bohrkopf in 21 Metern Tiefe durch eine Gesteinsschicht – und am nächsten Vormittag entdeckten die Arbeiter im Bohrloch das schwarze Gold, das die Erde freigegeben hatte. Das Jahrhundertereignis begründete die moderne Erdölindustrie und katapultierte die Weltwirtschaft in die Zukunft.
Rund 170 Jahre nach dem Beginn des Ölzeitalters befindet sich der Planet aber auch in einer seiner größten Krisen: Der Ausstoß großer Treibhausgasmengen erhitzt das Klima. Mehr extreme Wetterlagen, Ernteausfälle, Infrastrukturschäden, gesundheitliche Belastungen und Produktivitätseinbußen sind die Folgen.
Die Carbon-Management-Branche wächst rasch
Die Abkehr von den fossilen Energien steht auf der Agenda. Das erfordert ein massives Umsteuern. Unternehmen müssen ihre Geschäfte dekarbonisieren. Der CO₂-Fußabdruck wird zu einer entscheidenden Kennziffer für Strategie, Bilanz und Erfolg. Das bringt eine neue Branche hervor: die Carbon Management-Branche.
Diese Branche wächst so rasch, dass es schwierig ist, den Überblick zu behalten. In Europa und Nordamerika sind 2022 insgesamt fünf Milliarden Dollar in Unternehmen investiert worden, die sich mit Treibhausgasbilanzierung, Klimastrategie und Kompensation beschäftigen. Das entspricht einer Verdreifachung im Vergleich zum Vorjahr, wie die Climate Tech-Plattform Net Zero-Insights berichtet. Besonders stark stiegen die Investitionen in Lösungen zur Erfassung von Emissionen in der Lieferkette. Sie versechsfachten sich fast auf 1,9 Milliarden Dollar.
Mehr als 100 Anbieter im deutschsprachigen Raum
Alleine im deutschsprachigen Markt gibt es nach exklusiven Recherchen von GREEN.WORKS, der Initiative für unternehmerischen Klimaschutz der dfv Mediengruppe, inzwischen mehr als 100 Anbieter. Dazu gehören Industriekonzerne, Beratungs- und Prüfunternehmen, Software- und Technologiefirmen und weitere Unternehmen, die beim unternehmerischen Klimaschutz helfen. Sie entwickeln Lösungen, um Treibhausgase zu bilanzieren und zu reduzieren.
Der starke Wettbewerb in der Branche führt zu einem hohen Innovationstempo und einem vielfältigen Angebot an Lösungen: von der persönlichen Beratung bis zum Einsatz von künstlicher Intelligenz. Das ist für Klimaschutz und Kunden zwar eine feine Sache. Allerdings wird es auch immer schwieriger, einen Überblick über das Angebot zu behalten und sich für einen Anbieter zu entscheiden. Die sprichwörtliche Qual der Wahl.
Von der Handarbeit zur KI-gestützten Echtzeitberechnung
Historisch gesehen war Treibhausgasbilanzierung Handarbeit. Beraterinnen und Berater halfen Unternehmen dabei, die Daten zu erfassen, zu bilanzieren und in einen Bericht zu verpacken. Darin hat die Branche ihre Wurzeln. Genau wie für die Finanzbuchhaltung entstanden in den vergangenen Jahren aber auch für die Treibhausgasbuchhaltung mehr und mehr digitale Lösungen.
Die Beratungsarbeit verschob sich hin zu Reduktionsmaßnahmen und Umsetzungsstrategien. Inzwischen sind manche Software-Lösungen so weit, dass sie auch diese Bereiche abdecken. „Waren die Analyse und das Reporting von Emissionen ehemals eine eher manuelle und beratungslastige Tätigkeit mit einfachen Tools, so sind die Carbon Management-Lösungen der nächsten Generation stark in die bestehende IT-Landschaft integriert, daten- und KI-getrieben sowie hochgradig automatisiert, um Analysen und Berichte in Echtzeit und auf Knopfdruck zu generieren“, schreibt die Investmentberatungsfirma Atlantic Ventures. „Ebenso ermöglichen die ‚Next Generation Carbon Management‘ Lösungen einen Blick in die Zukunft sowie Soll-Ist-Vergleiche auf dem Weg zur Klimaneutralität.“
Mix aus Beratung und Software
Noch sind Automatisierung und künstliche Intelligenz aber nicht der Standard. Vielmehr gibt es in der Carbon Management-Branche einen breiten Mix aus Beratung und Software. Und längst nicht alle Fachleute sind sich sicher, dass Treibhausgasbilanzierung und Klimamanagement künftig auf Knopfdruck funktionieren werden. „Wir brauchen auch die kritische Einordnung und Steuerung der Technik durch den Menschen“, sagt Professor Christian Kroll, Experte für nachhaltiges Management an der IU Internationalen Hochschule. „Unternehmen sollten nicht den Fehler machen, auf menschliches Klima- und Nachhaltigkeits-Know-how zu verzichten.“ Klar ist jedoch, dass Treibhausgasbilanzierung den Zugriff auf eine Vielzahl von Daten des Unternehmens erfordert: von fossilen Energien beim Heizen über die Klimabilanz eingekaufter Produkte bis zum Mobilitätsverhalten der Beschäftigten. Klimadienstleister können bei der Erfassung dieser Daten helfen.
Nach der Bilanzierung von Emissionen geht es um die Entwicklung einer Klimastrategie, um das Finden von Reduktionsmaßnahmen, um den Aufbau eines Klimamanagements, um Change-Prozesse, das Reporting nach verschiedenen rechtlichen Anforderungen und die Entwicklung grüner Produkte. Und das ist nur eine Auswahl von Themen. Welcher Dienstleister jeweils am besten geeignet ist, hängt vom Charakter des Unternehmens und seinen Zielen beim Klimaschutz ab. An Auswahl mangelt es nicht.
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