Interview
Gewässer mit komplexen Stoff-Mischungen belastet
Seit 2013 forschten über 100 Wissenschaftler aus 14 Ländern unter Leitung des Leipziger Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung im Projekt SOLUTIONS. Ziel war die Entwicklung von Methoden und Werkzeugen zum Aufspüren von Schadstoffen in Gewässern, die Risikobewertung der Wechselwirkungen und die Entwicklung von Lösungen zur Verbesserung der Gewässerqualität. wwt sprach mit PD Dr. Werner Brack über die wichtigsten Ergebnisse und aus SOLUTIONS resultierende Schlussfolgerungen.
wwt: Die Europäische Union kommt bei der Verbesserung des ökologischen und chemischen Zustands der Gewässer nicht richtig voran. Wo sind Ursachen zu suchen?
BRACK: Die Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) ist ein weltweit einmaliges und sehr ambitioniertes Regelwerk, das einen guten ökologischen und chemischen Zustand der Gewässer europaweit zum Ziel hat. Leider sind die Ansätze, mit denen dieses Ziel erreicht werden soll, nicht immer zielführend. Ich möchte das gern für die Chemikalienbelastung erläutern. Während unser Augenmerk bei der Chemikalienbelastung in der Vergangenheit sehr stark auf einigen wenigen als besonders problematisch erkannten Stoffen lag, haben wir heute verstanden, dass unsere Umwelt mit komplexen Mischungen vieler Stoffe belastet ist. Das Aus-dem-Verkehr-Ziehen einzelner Chemikalien führt nicht notwendigerweise zu einer Verbesserung der Situation, wenn diese Stoffe durch andere mit ähnlichen Risiken ersetzt werden. Der chemische Zustand laut WRRL wird über einen Satz von 45 Prioritären Substanzen definiert, in der Vergangenheit bewusst hergestellte und genutzte Stoffe, die aber heute fast alle vom Markt genommen wurden, oder Stoffe, die zum Beispiel als Nebenprodukte von Verbrennungsprozessen entstehen, heute europaweit verbreitet sind und die strengen Grenzwerte überschreiten. Der chemische Zustand ist demnach flächendeckend nicht gut, während Wassermanager wenige Möglichkeiten haben hieran kurzfristig etwas zu ändern. Gleichzeitig werden die Gewässer mit einer komplexen Mischung von Pestiziden, Bioziden, Pharmazeutika, Reinigungsmitteln, Farbstoffen und vielem mehr belastet, von Stoffen, die wir täglich nutzen und die ein deutliches Risiko für die Fauna und Flora vieler Gewässer darstellen. Eine Überwachung und Reduktion dieser Stoffe im Gewässer ist dringend geboten, wird aber nicht durch einen verbesserten „chemischen Zustand“ belohnt, weil diese Stoffe hierfür nicht berücksichtigt werden. Hier fehlt ganz offensichtlich ein funktionierendes Anreizsystem. Trotzdem soll natürlich nicht verschwiegen werden, dass in einigen Ländern und Regionen Europas tatsächlich massiv und auch sehr erfolgreich in die Verbesserung der Wasserqualität investiert wird. In SOLUTIONS konnten wir zeigen, dass die Aufrüstung von Kläranlagen mit einer vierten Reinigungsstufe, wie sie die Schweiz beschlossen hat und umsetzt, die ökologische Qualität stromabwärts deutlich verbessern kann.
wwt: Wurden bislang die richtigen Schadstoffe in den Gewässern untersucht?
BRACK: Um die Frage zu beantworten muss man vielleicht zuerst daran erinnern: In jeder Wasserprobe lassen sich zehntausende von Stoffen finden, bekannte und nicht bekannte, problematische, weniger problematische und unproblematische. Je nach betrachteter Wirkung dominieren dabei Einzelstoffe oder werden Effekte von der komplexen Mischung ausgelöst. Gleichzeitig ist der Chemikalienmarkt sehr dynamisch. Ständig werden neue Stoffe in den Verkehr gebracht, wegen neuer Nutzungen aber auch weil alte Stoffe reguliert werden und ersetzt werden müssen. Die Stoffe, die ein besonderes Risiko darstellen, sind dabei oft von Region zu Region und von Jahreszeit zu Jahreszeit sehr verschieden. Wenig dynamisch sind aber die politischen Prozesse, die dazu führen, dass Stoffe auf der Prioritätenliste landen und überwacht werden müssen.
Eine auf Einzelstoffen basierte Überwachung und Regulierung muss daher der Realität zwangsläufig hinterherhinken (und die falschen Stoffe messen). Wir schlagen vor, die einzelstoffbasierte Überwachung durch ein lösungsorientiertes chemisches und effektbasiertes Screening zu ergänzen. Dadurch kann die chemische Belastung auf eine sehr viel umfassendere Weise erfasst werden. Es lassen sich Managemententscheidungen besser treffen und verfügbare Ressourcen auf die Stoffe, Quellen und Wasserkörper lenken, die tatsächlich einer Verbesserung bedürfen.
SOLUTIONS hat dabei einen gut strukturierten Werkzeugkasten für lösungsorientiertes Monitoring entwickelt. In Fallstudien wurde gezeigt, wie die Werkzeuge genutzt werden können, um die chemische Belastung zu erfassen und bewerten. Unterstützt wird dieser Werkzeugkasten durch einen Satz integrierter Vorhersagemodelle, die aus Emissions- und Nutzungsdaten sowie der Eigenschaften der Chemikalien wie der Flusssysteme Stoffe benennen können, die ein Risiko darstellen könnten und deshalb in die Überwachung einbezogen werden sollten. Die Anwendung der SOLUTIONS-Werkzeuge in bestimmten Wasserkörpern und in großen Flussgebieten hat natürlich auch dazu geführt, derzeit besonders gefährliche Stoffe auf verschiedenen Skalen zu identifizieren. Die Ergebnisse sind z. B. direkt in den Flussgebietsmanagementplan der Donau eingeflossen.
wwt: Das Projekt empfiehlt eine Umstellung von der Betrachtung einzelner Schadstoffe hin zu effektbasierten Methoden…
BRACK: Bisher werden Stoffe fast ausschließlich chemisch-analytisch überwacht, d. h. auf der Basis der Konzentration einzelner Stoffe. Eine gute Ergänzung stellt die Erfassung von Stoffen über ihre Wirkung auf Wasserorganismen oder Zellsysteme, die spezifische Effekte anzeigen, dar. Der große Vorteil besteht dabei darin, dass effektbasierte Methoden alle Stoffe, die eine bestimmte Wirkung zeigen, erfassen. Der Ersatz eines Pestizids durch ein anderes mit gleicher Wirkung scheidet damit als (Schein)lösung des Belastungsproblems aus. Mischungseffekte werden automatisch mit erfasst. Mit der Erfassung von Chemikalien über ihre Wirkung sollte es besser möglich werden, die chemische Belastung mit dem ökologischen Zustand eines Gewässers zu verknüpfen. Natürlich hat effektbasiertes Monitoring auch Nachteile. Es liefert kaum Informationen über die verursachenden Stoffe. Die brauchen wir aber oft, um gezielte, an der Quelle ansetzende Maßnahmen zu ergreifen oder das Verursacherprinzip anzuwenden. Aber auch hier hat SOLUTIONS Lösungen entwickelt. Wenn die Wirkungstests Alarm schlagen, haben wir ein umfangreiches Instrumentarium zur Verfügung um die Ursache zu identifizieren.
wwt: Das Gewässer-Monitoring ist aufwändig und kostenintensiv, politische Prozesse oft sehr langwierig. Wir laufen den Prozessen hinterher. Wie kann man unter diesen Rahmenbedingungen die Gewässerqualität deutlich verbessern?
BRACK: Das SOLUTIONS-Instrumentarium zur Überwachung, Bewertung und Reduktion der chemischen Belastung stellt aus meiner Sicht einen deutlich Fortschritt dar und soll helfen, dass wir den Prozessen eben nicht mehr nur hinterherlaufen. Wirksam werden solche neuen Ansätze aber erst, wenn sie von den Entscheidungsträgern auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene und von denjenigen, die die Wasserrahmenrichtlinie umsetzen, als nützlich empfunden und zur Anwendung gebracht werden. Dies kann nur funktionieren, wenn diese potenziellen Nutzer der wissenschaftlichen Ergebnisse von Anfang an in alle Entscheidungsprozesse im Projekt miteinbezogen werden. Dies ist uns ganz gut gelungen. Der Erfolg von SOLUTIONS beruht nicht zuletzt auf der Unterstützung und kritischen Begleitung durch ein engagiertes Bord aus Vertretern der EU-Kommission, nationaler Umweltbehörden verschiedener Mitgliedsländer, zweier internationaler Flussgebietskommissionen (Donau und Rhein), der Wasserindustrie und vieler mehr. Nach dem „Go“ der europäischen Wasserdirektoren, dem höchsten Entscheidungsgremium im Bereich Wasser in Europa, werden unsere Vorschläge nun unter Beteiligung der SOLUTIONS-Wissenschaftler in den Arbeitsgruppen der EU-Kommission diskutiert und Richtlinien für deren Einsatz erarbeitet.
wwt: Müssten nicht die Verursacher stärker in die Pflicht genommen werden?
BRACK: Das Verursacherprinzip muss selbstverständlich überall dort, wo es sinnvoll ist, zur Anwendung kommen. Noch immer stellen industrielle Einleiter und die Landwirtschaft einen großen Anteil besonders problematischer Belastungen auf aquatische Ökosysteme dar. Die Reduktion dieser Emissionen ist zwingend notwendig und muss selbstverständlich bei den Verursachern erfolgen. Die heutigen Anreize und Regelungen für eine umweltfreundliche Landwirtschaft reichen hier bei weitem nicht aus. Industriebetriebe emittieren typischerweise produktionsspezifische Stoffe in die Umwelt, die der Gewässerüberwachung oft nicht bekannt sind und nicht erfasst werden. Auch hier an der Quelle könnte ein stärkerer Einsatz effektbasierter Überwachungsmethoden helfen. Insgesamt ist die Palette notwendiger Maßnahmen für eine verbesserte Wasserqualität aber sehr viel umfangreicher als oft gedacht. Das umfasst die Herstellung und Nutzung weniger schädlicher und schnell abbaubarer Chemikalien, verbesserte Produktionsprozesse, die Emissionen vermeiden, bessere Entsorgungssysteme für bestimmte Produkte, die bessere Aufklärung der Nutzer der Chemikalien, Nutzungseinschränkungen und vieles mehr. Am Ende werden aber auch end-of-pipe Lösungen gebraucht, wie zum Beispiel die Ertüchtigung von Kläranlagen, Chemikalien besser aus dem Abwasser zu entfernen. Die Bestimmung chemischer Fußabdrücke kann helfen Prioritäten zu setzen, wo die Einführung einer 4. Reinigungsstufe besonders dringlich ist. Die Frage dabei ist, ob der Fluss mit seiner Wassermenge die Emissionen einer oder mehrerer Kläranlagen auf unschädliche Konzentrationen verdünnen kann. Kann dies nicht bejaht werden, ist eine Aufrüstung geboten.
wwt: Welche Maßnahmen müssten jetzt folgen?
BRACK: Derzeit steht eine Überarbeitung der WRRL an. SOLUTIONS hat hier eine Reihe von Vorschlägen gemacht, die jetzt geprüft werden. Dies betrifft insbesondere die bereits diskutierte effektbasierte Überwachung der Wasserqualität. Neben der Umsetzung auf europäischer Ebene ist es aber auch sehr wichtig, Partner in deutschen Bundesländern zu finden, die sich an die Spitze der Entwicklung für eine verbesserte Wasserqualität stellen und neue Ansätze bei der Gewässerüberwachung gehen wollen. Sehr hilfreich wäre, in Modellregionen intelligente Lösungen für eine nachhaltige Wassernutzung und bessere Gewässerqualität zu erproben, unter Einbeziehung der wichtigsten Akteure aus Landwirtschaft, Industrie, Gemeinden und Wasserwirtschaft.
Das Gespräch führte Nico Andritschke.
KONTAKT
PD Dr. Werner Brack
Department Wirkungsorientierte Analytik
Helmholtz Zentrum für Umweltforschung
Permoserstraße 15
04318 Leipzig
E-Mail: werner.brack@ufz.de
www.ufz.de